Lena Gohlisch und das Passen. Damit ist es schon vor diesem Termin im September an der Max-Schmeling-Halle losgegangen. „Nach dem Training passt gut“, hat sie in einer Textnachricht geschrieben. Und: „Welcher Tag würde passen?“ Und: „Vorm Training passt auch.“ Passt, passen, passt – natürlich nur eine ganz gewöhnliche Phrase. Aber eine besonders, nun ja, passende vor diesem Treffen, bei dem die inzwischen 27-jährige Berlinerin einen Einblick in ihre Gedankenwelt als ALBAs Spielmacherin in der Toyota 2. Damen Basketball Bundesliga (DBBL) gewähren soll. „Ich weiß gar nicht, ob man so viel übers Passen erzählen kann“, setzt sie ein wenig zurückhaltend an. Dann beginnt sie ihre fünfteilige Erzählung. Eine Reise über das gesamte Spielfeld.

Text: Leonard Brandbeck, Fotos: Jan Buchholz und Philipp Sommer

Dieses Feature ist Teil unseres Jahrbuchs 2020/2021 (hier im Shop erhältlich). Es ist eines von sechs Skills-Features. In den weiteren Artikeln dieser Reihe werden das Rebounding (mit Luke Sikma), das Post-Up-Spiel (mit Johannes Thiemann), das Werfen (mit Marcus Eriksson), das Verteidigen (mit Ben Lammers und Fee Zimmermann), und das Dribbeln (mit Maodo Lô) behandelt. Die Features werden nach und nach auf unserer Website veröffentlicht.

I. Der Einwurf

„Der Pass ist immer schneller, als wenn wir laufen. Deshalb legen wir nicht nur Wert auf einen schnellen Einwurf, sondern wollen dabei schon einen relativ großen Teil des Feldes überbrücken. Als Guards sollen wir auf Höhe der eigenen Freiwurflinie den Ball bekommen. Und zwar so, dass wir den Ball gleich mit in die Bewegung nach vorne nehmen und ihn dann möglichst schnell auf den Flügel passen. Manchmal spiele ich den Einwurf auch selbst, damit ich den ersten Pass direkt zurückbekomme. Das hilft besonders, wenn wir Probleme beim Ballvortrag haben.“

Sie will den Ball zurück. Logisch. Jedes Kind, das mit Basketballspielen anfängt, will erst mal den Ball haben. Umso tapferer musste Lena Gohlisch sein. Als Kind spielte sie häufig bei den Jungs mit. „Da habe ich früh erlebt, dass einem der Ball nicht zugepasst wird.“ Weil sie „das Mädchen“ war? „Definitiv! Wenn man einen einzigen Pass nicht gefangen hat, dann hat man auch mal ein ganzes Training lang keinen Pass mehr bekommen. Als Mädchen bekommt man da ein anderes Mindset, da ist man oft netter und passt eher.“ Aber macht es ihr denn jetzt überhaupt noch Spaß, den Ball abzugeben? „Auf jeden Fall! Oft ist ein kluger Pass schöner als ein Korbleger.“

 

II. Der Schnellangriff

„Unser Ziel ist es, schon mit dem ersten Pass einen Fastbreak zu laufen. Deswegen soll er eigentlich schon ein langer Pass sein. Ich soll nicht erst zur Dreierlinie dribbeln und dann den Ball passen, damit wir in ein System einsteigen. Es kommt also darauf an, dass ich schon mit dem ersten Pass eine gewisse Aggressivität ausstrahle. Häufig schaffen wir es dann, direkt auf unsere schnellen großen Spielerinnen zu spielen, die durchgelaufen sind. Oder wir spielen eben über die Flügel, um den Ball schnell unter den Korb zu geben oder direkt ins Eins-gegen-Eins zu gehen. Im Optimalfall spiele ich in einem Angriff also nur einen einzigen Pass: den zum Korbleger oder zum Eins-gegen-Eins.“

Nur ein einziger Pass also. Und einer, der dann auch gleich der entscheidende sein kann. An die wichtigsten Würfe ihrer Laufbahn erinnern sich fast alle Basketballspieler*innen. Aber auch an ihre fantastischsten Pässe? Lena Gohlisch muss kurz nachdenken. „Ich kann mich tatsächlich besonders an einen Pass erinnern.“ Schon ein paar Jahre her, keine entscheidende Aktion. „Aber ich habe einen Rebound bekommen und dann einen Baseballpass übers ganze Feld gespielt.“ Mit nur einer Hand schleuderte sie den Ball also tief aus der eigenen Hälfte bis unter den gegnerischen Korb. „Eigentlich war die Verteidigung da. Aber in diesem Moment hat alles perfekt gepasst. Der Ball ist exakt angekommen, und meine Mitspielerin musste nur noch den Korbleger machen.“

Am Tag nach dem Treffen schickt Gohlisch noch eine Nachricht. Verlinkt ist ein Instagram-Video. Darin steht sie nun auf Höhe der Mittellinie und soll den Ball einwerfen. Auf der Spieluhr sind es nur noch ein, zwei Sekunden, es steht Unentschieden. Ein paar kleine Schritte Anlauf, und wieder katapultiert Gohlisch den Ball unter den Korb, diesmal über ihren Kopf, mit beiden Händen. Die Kugel fliegt und fliegt und fliegt – und landet exakt bei ihrer Teamkollegin, die in genau diesem Moment zwischen ihren Gegenspielerinnen aufgetaucht ist. Korbleger. Schlusssirene. Sieg.

III. Das Setplay

„Erst wenn wir keinen schnellen Abschluss hinbekommen, fangen wir an, über ein festes System nachzudenken. Bei den meisten Plays muss ich mir dann erst einmal den Ball holen und sagen: Jetzt fangen wir von vorne an. Sonst spielt man ja eher Brustpässe, aber gerade im Setplay sind es bei mir auch viele Bodenpässe, weil da niemand so einfach eine Hand dazwischen bekommt. Manchmal übergeben wir den Ball als Handoff direkt von Hand zu Hand. Und dann spiele ich auch viele Pässe einhändig aus dem Dribbling, weil man den Ball schneller wegbekommt, als wenn man noch mal beide Hände ranhält. Letztes Jahr kam noch ein Pass dazu, den ich davor nicht so oft gespielt habe: an die Dreierlinie, zu unserer Centerin. Da habe ich ein Außendribbling gemacht und dann so einen halben Haken gepasst, weil ich genau wusste, wohin sie sich bewegt.“

Zum ersten Mal bei diesem Treffen macht Lena Gohlisch nun trocken eine Bewegung vor und deutet mit ihrem rechten Arm eine Schaufelbewegung seitlich über den Kopf an. Einen „halben No-Look-Pass“ nennt sie diesen Hakenpass, weil sie schon kurz vor dem Anspiel schaut, wohin sich ihre Mitspielerin bewegt hat. „Mit manchen Spielerinnen entwickelt man im Laufe der Zeit einfach ein Gefühl füreinander und weiß, was die andere macht.“ Und dann sagt Gohlisch einen so simplen wie einleuchtenden Satz: „Zum Passen gehören immer zwei.“

 

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IV. Die Attacke

„Wenn ich selbst in eine Position komme, in der ich meine Gegenspielerin geschlagen habe oder in eine Lücke stoßen kann, um nun direkt den Korb zu attackieren, dann hängt viel davon ab, ob ich seitlich über die Grundlinie oder durch die Mitte komme. Eine Option ist auf jeden Fall immer der kurze Durchstecker auf die großen Spielerinnen. Weil sich alle unsere Großen gut in den Lücken bewegen, geht da oft was. Und dann muss man auf jeden Fall auch immer auf die Werferinnen draußen achten. Ganz viel hängt davon ab, von wo die gegnerischen Verteidigerinnen kommen, um gegen mich zu helfen. Dann weiß ich: Dort wo sie herkommen, muss jetzt auch jemand frei sein.“

Am Abend vor dem Treffen haben Lena Gohlisch und ihre Kolleginnen in der Schützenstraße trainiert. Coach Cristo Cabrera hat dabei immer und immer wieder Überzahlsituationen üben lassen. Gohlisch legt dann in der Regel souverän auf ihre Mitspielerinnen ab oder geht im richtigen Moment selbst zum Korbleger hoch. In einer Sequenz passt sie ihrer Kollegin den Ball jedoch irgendwo auf Kniehöhe – unerreichbar, der Ball springt weg, ein einfacher Korb ist verschenkt. „Das ist Teil des Spiels und nichts, woran man jeden Abend denkt“, sagt Gohlisch. Über technisch schlechte Pässe ärgert sie sich trotzdem besonders. Bei klassischen Missverständnissen ist sie milder. „Dass irgendjemand dahin geht, wo man es nicht erwartet hatte, oder man sich etwas gedacht hat, was die andere nicht wissen konnte – das passiert ja ständig. Außerdem kann man sich da ja zumindest streiten, wer schuld ist. Bei den anderen Fehlpässen ist klar: Das lag jetzt nur an dir.“

V. Der Assist

„Ich bin häufig überrascht, wie viele Assists ich am Ende eines Spiels tatsächlich habe. Ob mein letzter Pass jetzt wirklich ein Assist war oder nicht, ist mir oft gar nicht so bewusst. Bei Anspielen zum Dreier zum Beispiel kaum. Bei diesen Durchsteckern direkt unter dem Korb dagegen schon sehr. Wenn man zum Korb zieht und merkt, dass jetzt alle Verteidigerinnen auf dich stürzen und sich eine Teamkollegin trotzdem noch irgendwie in die Lücke bewegt hat. Da gehst du mit dem Gedanken hoch, dass du jetzt gleich den Ball zum Korb ablegst – und merkst dann erst auf dem Weg nach oben, dass du den Ball doch noch mit einer Hand tropfen lassen oder um eine Gegnerin herumlegen kannst. Aber ob Assist oder nicht – man hat einfach ein gutes Gefühl, wenn man die Aktion gehabt hat, die einen Wurf überhaupt erst möglich gemacht hat.“

So spricht eine Teamplayerin. Das ist der Vorteil am Passen. Wer den Statistikbogen allzu selbstverliebt mit Punkten, Steals oder gar Rebounds füllen will, der gerät schnell in den Verdacht, das Wohl des Teams aus den Augen zu verlieren. Bei Assists ist das anders. Der Pass zu viel wird eher verziehen als der Pass zu wenig. Der Pass ist der edelste aller Basketball-Moves – selbstlos, elegant, weitsichtig. Und erst der Pass macht aus den Einzelspieler*innen ein gemeinsames Team. Da kann man auch eine knappe Stunde über die eigenen Fähigkeiten reden, und gerät trotzdem nicht in den Verdacht der Selbstgefälligkeit. Eine knappe Stunde?! Lena Gohlisch muss los. Gleich beginnt das Training. „Wow“, verabschiedet sich ALBAs Spezialistin für die Verteilung des Spielgeräts. „Ich hätte nicht gedacht, dass man so viel zum Passen sagen kann.“