Schriftsteller und Autor Thomas Pletzinger ("Gentlemen, wir leben am Abgrund") beschreibt das "gute Spiel" des ALBA-Teams der vergangenen Saison und wie es neues ALBA-Feuer in ihm entfacht hat. Der Artikel ist im ALBA-Jahrbuch 2018/2019 erschienen und hier in voller Länge nachzulesen.

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Das gute Spiel

Déja Vu: Wir sind unterwegs nach Süden zum fünften und alles entscheidenden Spiel um die deutsche Meisterschaft: Etliche Busse voller Fans auf der Autobahn, zig Pkws, die Damen und Herren der Geschäftsstelle sitzen im Zug und trinken ein enthusiastisches Bier auf ALBAs Saison. Es ist Frühsommer 2018, aber das alles kommt uns bekannt vor – als wäre es 2011. Auch damals hatte es ein fünftes Spiel gegeben, auch damals war Berlin geschlossen nach Bayern gefahren, auch damals war die Meisterschaft zum Greifen nahe gewesen.

Damals hieß der Gegner allerdings Bamberg, und ALBA hatte eine krisengeschüttelte Saison hinter sich: Die letzte Meisterschaft war noch nicht lange her, die Erwartungshaltung und das Selbstverständnis des Clubs waren grundlegend anders als jetzt. Spieler kamen und gingen, Luka Pavicevic wurde entlassen, die Spielweise war erst starr, unter seinem Nachfolger Muli Katzurin dann notdürftig improvisiert. ALBA hatte ein Imageproblem, Fans jammerten, Spieler lamentierten, der Verein galt als Beschwerdeclub. Die Bayern gab es damals noch gar nicht, aber ihre Ankunft in der Bundesliga deutete sich bereits an. Trotz allem reichte es für das Finale.

Jetzt ist alles anders. In der Saison 2017/18 hat ALBA sich neu erfunden. Der Beschwerdegeist hat sich verzogen, für ALBA spielen junge Spieler aus dem eigenen Nachwuchs, ergänzt durch Amerikaner, Litauer und Serben, die allesamt ebenfalls aus dem eigenen Nachwuchs stammen könnten. Der Coach ist ein älterer Herr aus Spanien mit einer jungen und ästhetischen Basketballvision: Das Team foult nicht, spielt mit Flow und Rhythmus, der Schwung und die Euphorie übertragen sich auf die Zuschauer. Bayern München dominiert jetzt zwar die Liga, aber niemand lamentiert, niemand zieht mehr ein Gesicht. ALBA hat die jüngste Mannschaft der Liga, und auch das Jugendprogramm gewinnt alles, was es zu gewinnen gibt. In Berlin sind die Erwartungen moderat, aber die Zuversicht ist groß.

Der Sportsommer 2018 hat es uns Basketballern nicht leicht gemacht, uns Sportfans im Allgemeinen: Die Zeitungen, das Netz und das Fernsehen wurden komplett von der Fußball-WM in Russland dominiert, von den ewigen Debatten davor und der unguten Ahnung, was danach noch kommen würde. Es gab erst moralische Bedenken gegen den Austragungsort, aber dann zig wohlfeile Gründe für das Verwerfen dieser Bedenken. Es zeichnete sich die Özil-Debatte ab, es gab Neymars Rumkugeleien und die nahezu komplette Überlagerung eines Sportereignisses durch Werbung, Politik, Erwartungen und Ansprüche, Scheinpolitik und Stimmungsmache. Bisweilen hatte man in diesem Sommer kein Interesse mehr daran, überhaupt beim Profisport zuzusehen. Stattdessen lieber laufen oder mit den Kindern auf den Freiplatz.

Der einzige Lichtblick in diesen dunklen Sportguckerzeiten: ALBA BERLIN. Seit dem Finale 2011 hatte meine Identifikation mit dem Club schleichend nachgelassen, das gebe ich zu, zuletzt war es eine Fernbeziehung geworden. Erst kannte ich nicht mehr alle Spielzüge, dann kannte ich nicht mehr alle Spieler. Aber in dieser Saison kehrte das alles zurück: Erst kam ich mit meiner Tochter zu den Nachmittagsspielen und teilte ihre Neugier, dann mit Freunden, dann mit ganzen Horden von Freunden. In den Playoffs sahen wir jedes Spiel mit einem fast vergessenen Enthusiasmus. Auch die Auswärtsspiele. Ich hatte das Gefühl, dass an dieser Mannschaft, an diesem Trainer und seinen Spielern, an der Struktur, der Spielphilosophie und an der Geschichte, die man sich von diesem Team erzählte, etwas diffus „richtig“ war.
 


Das vierte Spiel der Finalserie fühlte sich dann an wie das perfekte, das „gute Spiel“: Wenn man sich beim Jubeln erwischt, obwohl man sich für gelassen hielt. Wenn man zwei Stunden komplett vergisst, auf sein Telefon zu gucken. Wenn man in den Auszeiten nicht auf die Werbebanden achtet und nicht auf das seltsam anachronistische Cheerleading, sondern sich anstarrt, ob das jetzt wahr ist, was man da gerade gesehen hat: Niels Giffey? Sechs von sechs? Echt jetzt? High Fives! Wenn man brüllt wie Clifford und die Tochter Saibous Freiwurfritual imitiert. Wenn einem die riesige Arena vorkommt wie eine Schulturnhalle, weil die Geschichte des Spiels so dicht und so stark ist. Wenn das Spiel eng ist, aber in den richtigen Momenten in die richtige Richtung kippt. Wenn wir gewinnen. 72:68. Wenn man dann noch einmal brüllt wie Clifford. Wenn der reine Augenblick das Vorher und das Nachher überlagert. Wenn man den Spaß am Basketball wiederfindet.

Joshiko Saibou ist einer der neuen, alten Identifikationsfiguren. Mit Rückgrat, aber biegsam. Mutig, aber nicht Kamikaze. Tough, aber sensibel. Dreist, aber höflich. Geliebt von den Berlinern, gehasst von den Münchnern. Joshiko war 2010/11 einer der Berliner Nachwuchsspieler, danach zog er aus, um jemand zu werden. Jetzt ist er zurück, ein Weltbürger, ein ernstzunehmender Baller, ein Symbol für das, was bei ALBA BERLIN passiert. Als ich Saibou in einem Café in der Nähe der Trainingshalle treffe, sitzt er bereits auf gepackten Taschen. Zehn Minuten, dann das letzte Training, dann ab nach München zum Showdown.

Statt des verabredeten Blitzinterviews liefert Saibou eine ausführliche Betrachtung des Innenlebens einer funktionierenden Basketballmannschaft. Er durchleuchtet die basketballerischen, taktischen, mentalen und sogar die spirituellen Komponenten des Erfolges, die „supervielen Waffen auf supervielen Ebenen“. Er spricht von der taktischen Freiheit im Angriff und der Toolbox, diese Freiheit nutzen zu können („Egal was, kommt, wir haben eine passende Lösung parat. Ob ich das schaffe, ist eine andere Sache, aber ich kann die richtige Entscheidung treffen. Ich kann auf alles eine Antwort geben.“). Von der mentalen Stärke, die jedes Teammitglied entwickelt habe, die aber vor allem das Kollektiv auszeichne, der richtigen Balance zwischen Anspannung und Entspannung, von Fokus und Lockerheit, die ihnen ermögliche, da zu sein, wenn es drauf ankomme. Von Selbstermächtigung und der Liebe zum Spiel. Das Wichtigste, sagt Saibou, sei die Konzentration auf den Moment. Jetzt Defense, jetzt ein Block, jetzt ein Wurf. „Sobald du daran denkst, was war oder was sein könnte, ziehst du deine Aufmerksamkeit vom Moment weg. Und bist nicht mehr konzentriert.“ Coach Aito, so sagt Saibou, trage daran die Hauptverantwortung, er habe die Saison über jede Winzigkeit erklärt, zweimal, dreimal und schließlich noch einmal, er habe seine Weisheit häppchenweise „herabgelassen“. Er spricht von der „idealen pädagogischen Situation“ und blindem Vertrauen. In diesem Jahr sei jeder einzelne Spieler besser geworden, das Team sowieso. „Wenn wir gegen uns spielen müssten, Team Damals gegen Team Jetzt“, grinst er, „Wir würden uns keine Chance lassen.“

Dann das Abschlusstraining, mit sperrangelweiten Türen und einer Armee von Hospitanten und Coaches. Erst kommt mir der Modus überraschend locker vor für den Vortag eines Endspiels, aber wenn Coach Aito spricht, stoppen die Scherze und die Konzentration ist schlagartig da. So arbeitet Aito: offen und zugänglich, alles auf innere Disziplin des Teams ausgerichtet, auf Freiheit und Selbstermächtigung der Spieler.
 

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Noch ein Deja Vu: Das fünfte Spiel geht verloren. Anders als 2011 ist es noch nicht einmal knapp. München wird Meister. Saibou scheint heute nicht so biegsam wie in den letzten Wochen, Sikma sieht gegen Bartel nicht gut aus, Peno und Cunningham geraten aneinander, Giffey trifft unter hundert Prozent. Die Bayern sind schlichtweg die bessere Mannschaft. Nach Spielende lassen die Spieler kurz die Köpfe hängen, sie sehen den Münchnern melancholisch beim Feiern zu und schwören sich ewige Freundschaft. Komme was da wolle. Der Audi Dome rumst und bumst in seiner rotblauweißbierigen Mia-san-mia-Selbstbegeisterung vor sich hin, während die mitgereisten ALBA-Fans aus der Halle in die Münchner Nacht ziehen, um ihren komplett erledigten Vizemeister zu besingen, ihren Coach, ihren Kapitän, die Jungen und die Alten, eine Idee und ihre Umsetzung, eine Haltung und die Perspektive. Sie besingen das gute Spiel. Saibou und Sikma und die anderen spazieren durch das gelbe Spalier, die Enttäuschung ist greifbar, aber sie ist mitnichten bitter. Sie schlagen sich eine Bahn durch all das Gelb und Blau, Coach Aito findet in all dem Respekt und Begeisterung den Bus nicht. Nicht alle Spieler werden zur nächsten Saison zurückkommen. Joshiko Saibou und Niels Giffey sicher, Luke Sikma und Peyton Siva wahrscheinlich, Spencer Butterfield und Akeem Vargas vermutlich nicht. Was bleibt: eine neue Clubkultur, so kitschig das klingen mag. Ein nachhaltiges System und eine Grundstimmung, die ein Team, einen Verein und eine Stadt tragen können. Es war ein gutes Jahr für ALBA BERLIN.

Anfang September stehen sie dann alle wieder in der Schützenstraße, als seien sie nie weggewesen. Es war ein langer Sommer, aber erstaunlich ereignisarm für ALBA. Ein paar andere Bundesligaclubs haben ihr komplettes Personal getauscht, bei ALBA sind drei Viertel des Teams geblieben. Martin Hermansson, Kenneth Ogbe, Rokas Giedraitis und Johannes Thiemann sind neu dazugekommen. Die jungen Spieler sind ein paar Monate kräftiger und schlauer, ansonsten ist alles beim Alten: Coach Aito erklärt etwas, erklärt es ein zweites Mal, und noch einmal. Und noch einmal.

Luke Sikma ist eine Art Schweizer Taschenmesser des deutschen Basketballs, MVP der Liga und Wirbelsäule des ALBA-Teams. Auch eine Verkörperung dessen, was bei ALBA passiert. Eine zentrale Metapher. Sikma ist kein Spezialist, er kann alles, er ist ein Jack of all trades. Wir treffen uns im selben Café neben der Trainingshalle, und was er sagt, ist im Grunde das, was Joshiko Saibou auch formuliert. Nur kürzer.

An das vierte Spiel der Finalserie kann er sich nicht mehr besonders genau erinnern, nur an Giffeys grandiose Quote. Meine Begeisterung kann er verstehen, aber er sieht das alles pragmatischer: Der Sieg bedeutete einfach nur die Chance auf ein nächstes und entscheidendes Spiel, die Möglichkeit der Meisterschaft. Im Rückblick verschmelzen die letzten Spiele der Saison. Sikma erinnert sich an die plötzlich einsetzende Melancholie bei der Siegerehrung der Bayern, an ein paar Biere nach dem Spiel, an den Sommer und an die Vorfreude auf Berlin und seine Jungs. Er ist froh, zurück zu sein und sich eine weitere Chance erarbeiten zu können. Er sei hier, weil er an das Projekt glaube, an die langfristige Perspektive, an die Stadt und das Publikum. Besonders: an die Art, Basketball zu spielen.

Auch Luke Sikma beschreibt Coach Aito als idealen Pädagogen, als Lehrer, der gleichzeitig immer auch noch Schüler sei, weil er sich nicht auf seine einmal fertig erdachten Unterrichtskonzepte verlasse. Sondern auf den ewigen Wandel des Spiels und die Fähigkeit, auf diesen Wandel zu reagieren. Bayern werde in der kommenden Saison wieder stark sein, Bamberg werde nicht noch einmal ein so ein schwaches Jahr haben wie das letzte. Aber egal was komme, sagt Sikma und klingt dabei, als hätten Saibou, Aito und er sich abgesprochen. „Wir werden auf alles eine Antwort haben.“ Als hätte ALBA BERLIN einen Plan, eine Idee, vielleicht sogar eine Vision. Als spielte ALBA BERLIN jetzt das gute Spiel.

Schriftsteller Thomas Pletzinger, Jahrgang 1975, lebt in Berlin. Für sein Buch „Gentlemen, wir leben am Abgrund“ hat er ein Jahr lang das ALBA-Profiteam begleitet, im Frühjahr 2019 erscheint sein neues Buch „The Great Nowitzki“.
 

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