Wie Bundestrainer Henrik Rödl unseren spanischen Head Coach Aito Garcia Reneses erlebt, beschreibt der ehemalige Tagesspiegel-Redakteur Norbert Thomma für das aktuelle ALBA-Jahrbuch. Seit etwa 20 Jahren ist er ALBA-Fan und schreibt regelmäßig als Journalist für und über den Verein. Seinen Artikel könnt ihr hier in voller Länge nachlesen.

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DER ULTIMATIVE LEHRER

WIE BUNDESTRAINER HENRIK RÖDL ALBAS SPANISCHEN COACH AITO ERLEBT

Dieser ältere spanische Herr ist schon etwas Besonderes.

Henrik Rödl fährt ja viel durch Deutschland oder sitzt im Flugzeug, um sich Spiele oder Trainingseinheiten von allen möglichen Teams anzuschauen. Er ist Bundestrainer. Er muss sich ein Bild davon machen, welche Spieler für die Nationalmannschaft infrage kommen, wo sie gerade mit ihren Leistungen stehen und darüber mit ihren Coaches sprechen. Seine Wege führen dabei nach Ulm und nach Hagen, nach Bamberg oder München, mittlerweile auch mal nach Istanbul, Oklahoma, Houston oder Los Angeles. Rödl, 49 Jahre alt, hat in seinem Basketballer-Leben jede Menge Coaches mit den unterschiedlichsten Temperamenten und Ideen gesehen. Kann so einen noch etwas zum Staunen bringen?

An einem Sommertag hockt Rödl in Berlin, Schützenstraße, ALBA-Trainingszentrum, auf einer Holzbank. Er sieht einen 71-Jährigen mit staksigen Beinen in kurzen Hosen. Bisweilen meint man ihm sein Alter ansehen zu können, doch wenn er einen Ball in die Hand nimmt, mal mit langen, mal mit Trippelschritten unterschiedliche Laufwege aufzeigt, den Zug zum Korb, den Ansatz eines Wurfes, dann haben seine Bewegungen etwas Tänzerisches. Rödl sieht Alejandro García Reneses, den alle nur „Aito“ nennen.

Was als Erstes auffällt, ist die Ruhe, die Aito ausstrahlt. Er spricht recht leise und hebt nicht ein einziges Mal seine Stimme an. Da herrscht andernorts ein rauerer Ton, auch in Berlin war das bei früheren Trainern so. Trotzdem hört die Mannschaft ihrem Coach aufmerksam zu, die Spieler hängen geradezu an seinen Lippen. Wenn etwas schiefgeht bei einer Übung, wird niemand hart angegangen, sondern Aito erklärt es zum zweiten und dritten Mal mit unendlicher Geduld. Es geht ihm immer ums Lernen, wie er selbst sagt, mit jedem Training sollen die Spieler einen Schritt weitergehen, Basketball besser verstehen, besser lesen, besser interpretieren können.

Irgendwann wird Henrik Rödl den schönen Satz sagen: „Er kommt wie der ultimative Lehrer rüber.“

Das Wort „Lehrer“ nehmen sie alle in den Mund, ob man nun mit Niels Giffey redet oder mit Luke Sikma oder einem aus dem offiziellen ALBA-Stab. Dieser spanische Trainer mache „vieles“ anders als alle anderen, sagen sie, manche schwärmen regelrecht, er mache „alles anders“. Ganz so weit würde Rödl nicht gerade gehen; er ist in seinem Amt als Bundestrainer der diplomatischen Neutralität verpflichtet und sowieso ein Typ des nüchternen Betrachtens. Doch was ist denn so speziell am Wirken von Aito?

Rödl sagt: „Es geht ihm nur um die eigene Mannschaft. Nie um andere, nie um den nächsten Gegner.“ Das ist deshalb verblüffend, weil es im europäischen Basketball extrem verbreitet ist, sich detailliert auf einen Kontrahenten vorzubereiten, den eigenen Spielern dessen Systeme zu erklären, dessen individuelle Stärken und Schwächen. In Berlin dagegen üben sie selbst einen Tag vor der Begegnung mit dem Tabellenführer noch die Grundlagen des variablen Passens. Aitos eigenartiger Ansatz ist Henrik Rödl eher aus seinen vier Jahren am US-College in North Carolina vertraut, dort agierte sein Trainer ähnlich wie der Spanier; allerdings gilt Dean Smith genauso wie Aito als Legende der Basketball-Zunft.
 

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Durch die Trainingshalle schallt der Lärm quietschender Turnschuhe. Dennis Clifford brüllt und wedelt mit den Armen wie ein Klassenclown, die anderen lachen; da werden Witze gerissen, es wird gealbert. Mit Aito hat eine unglaublich positive, lockere Atmosphäre Einzug gehalten. Und trotzdem sind alle Beteiligten einhundert Prozent auf die Arbeit fokussiert. Die Disziplin ist so sichtbar wie die gute Laune. Man hat da nie das Gefühl, dass einer Ärger macht oder es größere Probleme gibt. „Diese Balance aus Spaß und Konzentration musst du als Trainer erst einmal hinbekommen“, meint Rödl. Er hat als Spieler bei ALBA und in der Nationalmannschaft 13 Jahre mit Svetislav Pesic verbracht, alte Balkanschule, die volle Härte; erfolgreich war das für ihn, vier Deutsche Meisterschaften in Folge, 1993 sogar Europameister, und doch, das ist dem Tonfall der Erzählung zu entnehmen, nicht immer ein reines Vergnügen.

Aito lehrt ja eine sehr eigene Art des Spielens. Da werden nicht Systeme starr durchgespielt, da muss jeder sekundenschnell Situationen lesen und spontan improvisieren können; wenn du in einem winzigen Moment die Chance siehst, einen Vorteil zu erringen, dann nutze sie, breche aus dem einstudierten Laufweg aus, attackiere! Er bietet damit seinen Spielern eine Menge Freiheiten, doch die erfordern ständige Wachsamkeit. Das sei schon, sagt Rödl, großer Sport. So lehrt Aito zwar eine Lösung für eine bestimmte Situation, aber er bietet dazu noch mehrere Optionen. Motto: So, Leute, und jetzt macht etwas daraus! „Er denkt“, meint etwa Marco Baldi, „Basketball genial.“ Und die Spieler spürten das, sonst würden sie nicht derart begeistert mitziehen. Das ist es ja letztlich, was die Faszination Aito ausmacht.

Für diesen Stil braucht es eine ganz eigene Auslese an Spielern, das ist der Job von Sportdirektor Himar Ojeda. Sie müssen sehr offen sein, wissbegierig, sie sollten einen hohen Basketball-IQ mitbringen. Das kriegt nicht jeder hin. Manch einer fühlt sich wohler in einem klaren System, der möchte genau gesagt bekommen: Wenn der Gegner das macht, stell dich so hin, wenn der Gegner dies macht, reagiere so… Das habe, sagt Rödl, nichts mit Kategorien wie gut oder schlecht zu tun. Es gebe nun mal Spieler, die funktionieren in einem engeren Korsett perfekt. „Auch eine große Qualität.“ 

Dabei darf man sich von all der Lockerheit und Flexibilität nicht täuschen lassen. Aito ist ehrgeizig. Er erwartet im Training und im Spiel maximale Intensität. Sonst hätte er als Trainer nicht neun Mal die spanische Meisterschaft gewonnen und bei Olympia 2008 mit Spanien die Silbermedaille. Sonst hätte er nicht Weltstars geformt wie Ricky Rubio, Kristaps Porzingis, Juan Carlos Navarro oder Pau Gasol. Natürlich hat er durch diese Erfolge längst eine enorme Aura, er genießt höchsten Respekt.

Lernen ist für Aito ein langer, nie endender Prozess. So dürfen den Spielern auch mal Fehler unterlaufen, im Gegenteil: Das Lernen aus Fehlern gehört zum Konzept. Macht nichts, sagt dann der spanische Herr, und er wird ihnen immer wieder erklären, wie es richtig geht. Sie spüren sein großes Vertrauen, sie „verlieren die Angst davor, Fehler zu machen“ (Giffey), sie werden eben nach dem zweiten Missgeschick nicht sofort zur Strafe auf die Bank gesetzt. Sie merken auch, dass sie besser und besser werden. Und Aito hat großes Zutrauen in das, was er ihnen beibringt.
 

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Man muss ihn nur mal während eines ganzen Spieles beobachten. Wie entspannt er an der Seite steht. Wie er auch in kritischen Situationen die Nerven behält und eben nicht eingreift. In Rödls Worten: „Was ich noch an diesem Trainer interessant finde, ist die Mischung aus Leidenschaft und Gelassenheit.“ Da geht es in der Bundesliga und im restlichen Europa in der Coaching-Zone emotionaler zu. Da wird gestikuliert, gezetert, geschrien, auch mal gepöbelt. Aito hingegen gibt den feinen spanischen Granden.

Können denn andere Trainer davon etwas lernen? Henrik Rödl ist da skeptisch. „Ich bin nicht Aito, ich werde nie wie Aito werden.“ Sich als Trainer zu verbessern, sei ein Findungsprozess. Am besten gehe das durch „Learning by doing“. Man führt eine Mannschaft, coacht Spiele, sieht dann, was funktioniert und was nicht, man justiert nach. Je älter man wird, desto besser gelinge das. Ganz nebenbei: Als Aito das erste Mal in Spanien zum „Trainer des Jahres“ gewählt wurde, 1976, war Rödl sieben Jahre alt. Das sei ja das Spannende am Trainer-Sein, meint Rödl, dass „es dafür kein Handbuch zu kaufen gibt, das muss man sich selbst schreiben“.

Wie denn auch: Ein Trainer hat jedes Mal andere Spieler mit anderen Persönlichkeiten und anderen Fähigkeiten, eine andere Wertigkeit von Spielen, er hat Verletzte. Als Vereinstrainer hat Rödl seine Teams über die ganze Saison begleitet, als Bundestrainer bleiben ihm manchmal nur drei Tage zur Vorbereitung. Sicherlich lerne er auch vom Beobachten. Wenn er in irgendeiner Trainingshalle sitzt und sehe eine Übung, von der er denkt, die könnte ihm helfen, dann notiert er sie; genauso bei einem Spielsystem, das gerade reinpassen würde. „Es existiert kein 1x1 der reinen Lehre.“

Aito ist Teil der spanischen Spielkultur. Er hat sie sicherlich auch sehr stark mitgeprägt. Einige seiner früheren Assistenten sind erfolgreiche Chefcoaches geworden. So hat es Spanien, wo Basketball schon lange eine große Rolle spielt, zu den höchsten Weihen gebracht: Weltmeister, mehrfach Europameister, sie haben viele Stars in der NBA. Die Spanier denken Basketball anders. Dort sieht man Spieler auf der Bank miteinander diskutieren, wie man bestimmte Situationen lösen könnte. Und in Berlin kann man inzwischen auch etwas von dieser Schule beobachten.

Es gibt einen Tübinger Statistiker, der aufgrund von Daten herausgetüftelt hat, ALBA hätte in der ersten Saison mit Aito gespielt wie die Golden State Warriors. Das scheint etwas hoch gegriffen, denn die waren in den vergangenen vier Jahren drei Mal NBA-Champion, ein mit Weltstars gespicktes Ensemble. Trotzdem gibt es durchaus Parallelen: das Tempo, die schnellen Würfe. Aito lässt früh attackieren, dann rennen alle fix nach vorne, bei der ersten guten Situation wird geworfen. Dazu braucht das Team natürlich die richtigen Leute, die müssen treffen – und die gab und gibt es. ALBA hatte die höchste Dreierquote der Liga – mit mehr als 40 Prozent. Andere Mannschaften agieren viel ruhiger, die wollen ein System durchlaufen, die Kontrolle über das Spiel bekommen. Das ist auch ein Weg zum Erfolg, doch es ist nicht Aitos Weg.

Wer von alledem am meisten profitiert hat, ist wohl Joshiko Saibou. Henrik Rödl kennt ihn, seit er zwölf Jahre alt ist. Er sei extrem lernbereit, motiviert, klug – da passe das System Aito wie die Faust aufs Auge. „Er hat im vergangenen Jahr in Deutschland den größten Sprung gemacht.“ Doch zum Glück gebe es momentan viele Spieler in der Nationalmannschaft, die viel Selbstvertrauen haben, die aus ihren Klubs plötzlich neues Werkzeug mitbringen und neue Sachen draufhaben. Gerade hat sich Rödl mit seinem Team vorzeitig für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr qualifiziert. Da lässt es sich schön entspannt sagen: „Ich empfinde es schon als Privileg, derzeit Bundestrainer zu sein.“