Es gab in den letzten Tagen viel zu feiern für die Albatrosse. Schließlich wird man im Laufe einer Basketballkarriere nicht so oft Meister und jetzt ist das Team von Coach Aito nach vielen Anläufen sogar Double-Gewinner geworden. Aber allmählich haben sich die Wogen wieder geglättet und der Blick wird frei für eine Rückschau auf eine in vielerlei Hinsicht unvergessliche Saison 2019/2020 (Foto: Ulf Duda).

Große Kontinuität mit 14 Profis und drei Perspektivspielen

Dass 2019/2020 eine ganz spezielle Saison werden würde, war für ALBA schon von vornherein ausgemacht, denn in der insgesamt 30. Saison der Vereinsgeschichte kehrten die Berliner nach fünf Jahren zurück in die EuroLeague, die inzwischen ihr Gesicht stark verändert hatte. Nicht nur, dass die in der Eliteliga etablierten europäischen Topklubs nach großen Investitionen so hochkarätig wie noch nie besetzt waren. Auch der Spielplan war mit nunmehr 34 regulären Spieltagen (plus Playoffs und Final Four) so umfangreich wie noch nie.
 

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ALBA musste sich auf eine hammerharte, in allen drei Wettbewerben (BBL, Pokal und EuroLeague) mehr als 80 Spiele umfassende Saison einstellen, hatte sich für diesen in der Klubgeschichte beispiellosen Kraftakt aber auch gerüstet. Mit 14 Profis war der ALBA-Kader für die neue Saison so tief wie noch nie besetzt. Zudem wusste Coach Aito mit Kresimit Nikic, Malte Delow und Lorenz Brenneke noch drei junge und talentierte Perspektivspieler in der Reserve, die parallel mit einer Doppellizenz für den Kooperationspartner Lok Bernau in der ProB spielten.

ALBAs größter Trumpf sollte aber die in dieser Form noch nie gesehene Kontinuität im Team werden. Niels Giffey, Peyton Siva, Martin Hermannsson, Stefan Peno, Kenneth Ogbe, Rokas Giedraitis, Tim Schneider, Johannes Thiemann und Landry Nnoko blieben ALBA allesamt aus der Vorsaison für mindestens ein weiteres Jahr erhalten und Luke Sikma, Marcus Eriksson und Jonas Mattisseck schlossen sogar Vierjahresverträge ab. Coach Aito konnte mit der rekordverdächtigen Zahl von gerade einmal drei Neuzugängen (Makai Mason, Marcus Eriksson und Tyler Cavanaugh) von Beginn an auf der Arbeit der Vorjahre aufbauen.

Der Knoten platzt beim Verlängerungsdrama in Athen

Das zahlte sich gleich in den ersten Saisonspielen aus. ALBA gewann die ersten vier Bundesligaspiele mit im Schnitt mehr als zwanzig Punkten Differenz. Beim 110:82 in Würzburg trafen neun verschiedene ALBA-Spieler 18/29 Dreier (62 Prozent). So gut hatte ALBA von außen in 29 Jahren zuvor noch nie getroffen. Auch in die EuroLeague startete ALBA mit 85:65 über das hochkarätig verstärkte Zenit St. Petersburg souverän. Am zweiten Spieltag verpasste das Team beim Vorjahresfinalisten Efes Istanbul mit 105:106 nach Verlängerung nur knapp die erste große Sensation.
 

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© Getty Images / EuroLeague

Aber in den folgenden Wochen zahlten die Berliner, bei denen bis auf Niels Giffey und Marcus Eriksson alle Spieler zum ersten Mal in der EuroLeague spielten, auch viel Lehrgeld in der „Königsklasse“. Dass neben Eriksson und Peyton Siva im November auch noch Johannes Thiemann verletzt ausfiel, machte die Situation nicht einfacher. ALBA stürzte mit Niederlagen gegen ZSKA Moskau, Mailand, Real Madrid und Maccabi Tel Aviv ans Tabellenende der EuroLeague und kassierte mit 80:84 in München auch in der Bundesliga seine erste Saisonniederlage.

Der Befreiungsschlag, der dem – ohne Siva und Eriksson immer noch dezimierten – Team nur vier Tage später in Athen gelang, kam umso überraschender. ALBA rang Panathinaikos, das zuvor noch nie ein Heimspiel gegen ein deutsches Team verloren hatte, in zwei Verlängerungen 106:105 nieder. Während die Berliner Defense Athens Star-Spielmacher Nick Calathes so entnervte, dass er neunmal (!) den Ball verlor, brachten vorne Martin Hermannsson und Luke Sikma mit zusammen 34 Punkten und 17 Assists ALBAs Tempospiel ins Rollen.

Pokal-Revanche und EuroLeague-Siege trotz Verletzungsmisere

Mit weiteren Siegen über Roter Stern Belgrad (mit Luke Sikma als Spieltags-MVP) und Zalgiris Kaunas befreite sich ALBA wieder aus dem Tabellenkeller, aber das Verletzungspech wollte einfach nicht abreißen. Als nach neuen Verletzungen von Johannes Thiemann und Tyler Cavanaugh die Personaldecke vor allem im Frontcourt dramatisch dünn wurde, boten viele Agenten ALBA schon Ersatz-Center an. Aber Coach Aito blieb der ALBA-Philosophie treu und warf stattdessen den jungen Kreso Nikic ins kalte Wasser, der beim 102:107 bei Fenerbahce Istanbul zwar nicht die nächste unglückliche Overtime-Niederlage verhindern konnte, aber durchaus sein Talent aufblitzen ließ.
 

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© Daniel Löb

Im Januar lichtete sich ALBAs Lazarett zum Glück etwas – gerade noch rechtzeitig, um im Pokal-Halbfinale mit 82:66 bei Brose Bamberg eine schwierige Auswärtshürde zu meistern und sich eindrucksvoll für die im Vorjahr dort im Pokalfinale erlittene unglückliche Niederlage zu revanchieren. So richtig in Schwung gekommen, ließ ALBA in der erfolgreichsten „Auswärtstournee“ der Saison nur zwei Tage später mit 93:86 in Piräus und weitere drei Tage später mit 94:85 bei Roter Stern Belgrad auch in der EuroLeague zwei große Auswärtssiege folgen.

Gegen Fenerbahce Istanbul verlor ALBA 70:74, aber Fenerbahces Trainer-Legende Zeljko Obradovic lobte ALBA anschließend mehr als sein eigenes Team: „Sie spielen einen sehr, sehr guten Basketball. Die Spieler wissen jederzeit, was zu tun ist.“ Zwei Wochen später kam es in Berlin gegen Real Madrid zum verrücktesten Spiel der Saison. Der Tabellenführer spielte ALBA in den ersten neun Minuten mit 41:19 an die Wand, aber ALBA antwortete mit einem 41:9-Lauf zu einer 60:50-Halbzeitführung. Real-Spielmacher Facundo Campazzo musste 19 Assists (EuroLeague-Rekord) auflegen, um den Titelanwärter nach der Pause doch noch zum 103:97-Sieg zu führen.

Im Pokal erster Titelgewinn unter Coach Aito

Am 16. Februar stand mit dem Pokalfinale gegen Oldenburg der erste Saisonhöhepunkt an. Zwar hatte die Losfee den Albatrossen das Heimrecht zugeschanzt, aber am Finaltag hatten die Eishockey-Eisbären bereits die Mercedes-Benz Arena gebucht – für ein Spiel gegen Mannheim, das nicht verlegt werden konnte. Da auch die Max-Schmeling-Halle nicht frei war, war guter Rat teuer: Die EWE Baskets boten bereits an, das Finale nach Oldenburg zu verlegen. Aber ALBA, die Eisbären und der Arena-Betreiber AEG fanden eine bessere Lösung: Zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Profisports wurden ein Eishockeyspiel und ein Basketballspiel am selben Tag in der selben Arena ausgerichtet.
 

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Nach dem zeitlich dafür nach vorne vorgezogenen Eisbären-Spiel gegen Mannheim wurde die Arena innerhalb weniger Stunden für das Pokalfinale hergerichtet. Möglich wurde das, weil man dabei die bei den Eisbären obligatorische Stehplatztribüne nicht abbaute (das hätte zu viel Zeit gekostet). Vor 14.641 Zuschauern, von denen die lautesten eben diese Stehplatztribüne nutzten, fand ALBA zwar schwer in das sehr intensive und umkämpfte Spiel (40:43 zur Halbzeit), lief aber nach dem Seitenwechsel mit 20 Punkten von Martin Hermannsson heiß und holte sich den „Pott“. ALBAs insgesamt zehnter Pokal markierte den ersten Titelgewinn unter Coach Aito.

Mit dem ersten Titel der Saison im Sack ging ALBA deutlich selbstbewusster in die folgenden Spiele. Martin Hermannsson führte ALBA vier Tage später auch in St. Petersburg als Spieltags-MVP zu einem Verlängerungs-Sieg. In der Bundesliga überrollte ALBA Bamberg mit 6/7 Dreiern von Marcus Eriksson 107:70 und drei Tage später verpasste man nur knapp eine Sensation gegen den FC Barcelona. Das 80:84 gegen das Team von Svetislav Pesic blieb aber das letzte Saisonspiel in der Mercedes-Benz Arena, denn BBL und EuroLeague mussten wegen der nun ausbrechenden Corona-Pandemie den Spielbetrieb einstellen.

Corona-Pandemie erzwingt den Saison-Abbruch

Die Nachricht vom vorzeitigen Ende der Saison erreichte die Albatrosse in Moskau, wo man am 29. Spieltag gegen ZSKA Moskau spielen wollte. Aber die Berliner mussten unverrichteter Dinge nach Berlin zurückkehren. Als sich nach wenigen Tagen abzeichnete, dass weltweit so schnell kein Basketballspiel – schon gar nicht vor Zuschauern - mehr stattfinden konnte, flogen die meisten ausländischen Spieler nach und nach in ihre Heimatländer zurück. Wegen der Quarantäne-Verordnungen konnten viele dort für Monate nicht einmal regulär trainieren, weshalb der Gedanke, die Saison noch irgendwie zu spielen, zwischenzeitlich utopisch wurde.
 

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Das Abflauen der Pandemie weckte aber zumindest in der BBL die Hoffnung, nach einer Alternative Ausschau zu halten. Ein ausgeklügeltes Hygiene-Konzept überzeugte schließlich die Behörden. Es gab grünes Licht für ein Finalturnier in München, wo zehn Teams (darunter alle Topteams) nach einem provisorischen Modus um den Deutschen Meistertitel spielten – zwar ohne Zuschauer, aber dank der TV-Übertragungen auf MagentaSport trotzdem für alle sichtbar. Drei Wochen abgeschottet in einem Münchener Hotel leben zu müssen sorgte zwar auch bei manchem ALBA-Spieler für Skepsis, aber die Aussicht, die Saison mit dem Meistertitel krönen zu können, war verlockender.

Bis auf Makai Mason, der aus persönlichen Gründen nicht aus den USA zurückkehrte, und den nach seiner langen Verletzung noch nicht wieder einsatzbereiten Tim Schneider folgten alle Albatrosse Coach Aito nach München, dem damit beim Finalturnier mehr gesunde Akteure zur Verfügung standen als zu jedem anderen Zeitpunkt der bisherigen Saison – ein gutes Omen? Viele Konkurrenten kamen mit veränderten Aufgeboten zum Finalturnier, weil Spieler nicht zurückgekehrt waren und durch Nachverpflichtungen ersetzt werden mussten. Nur Oldenburg und Bamberg gingen wie ALBA ohne Neuzugänge in das Finalturnier, das damit zu einer schwer vorhersagbaren Veranstaltung wurde.

ALBAs neunter Meistertitel und das fünfte Double

Das Turnier begann mit einer besonders schönen Nachricht: Nach anderthalb Jahren Pause aufgrund seiner schweren Knieverletzung kehrte Stefan Peno im ersten Gruppenspiel gegen Frankfurt auf das Wettbewerbsparkett zurück und kam im Laufe des Turniers in drei weiteren Partien zum Einsatz. Coach Aito jonglierte bei einem Turniermodus, der alle zwei Tage ein Spiel vorsah, vom ersten Spieltag an meisterhaft mit seinem Aufgebot, indem er in jedem Spiel einen oder zwei Leistungsträger aussetzen ließ. Dabei zahlte sich aus, dass die Spieler über die vielen Verletzungen, die das Team in der Saison kompensieren musste, gelernt hatten in verschiedenen Rollen und Konstellationen zu agieren. ALBA marschierte ohne Niederlage durch die Vorrundengruppe B. Beim 97:89 gegen Ludwigsburg, mit dem ALBA sich den Gruppensieg sicherte, glänzte Luke Sikma mit einem seltenen „Triple Double“ (15 Punkte, 10 Rebounds und 10 Assists) – es war das erste in Lukes Karriere, das erste ALBA-Triple-Double in der Bundesliga und auch erst das zweite der ALBA-Geschichte nach Derrick Phelps in der Suproleague 2001. Im Gegensatz zur NBA ist ein Triple-Double in Europa äußerst selten, da acht Minuten weniger gespielt werden und die Bewertung von Assists deutlich strenger ist.
 

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In der mit Hin- und Rückspiel gespielten K.O.-Phase legte ALBA sowohl im Viertelfinale gegen Göttingen (93:68) als auch im Halbfinale gegen Oldenburg (92:63) gleich im ersten Spiel hohe Führungen vor, die im Rückspiel kaum noch aufzuholen waren und zog ungeschlagen ins Finale gegen Ludwigsburg ein – die wettbewerbsübergreifend 34. ALBA-Finalteilnahme in 30 Saisons. Die Schwaben hatten die Bayern und Ulm ausgeschaltet, mussten aber ebenfalls gleich im ersten Spiel die Berliner Überlegenheit anerkennen. ALBA holte mit 88:65 und 75:74 seinen neunten Meistertitel, der im 30. Jahr der Vereinsgeschichte zugleich den wettbewerbsübergreifend zwanzigsten Titel und das fünfte „Double“ markierte und natürlich gebührend gefeiert wurde.

Niels Giffey schob sich in einer am Ende doch „nur“ 61 Spiele umfassenden Saison mit seinen in den Finalspielen erzielten 26 Punkten in ALBAs ewiger Scorerliste mit nun 2.709 Punkten auf den siebten Platz vor. Nach Spielen kletterte der ALBA-Kapitän mit 337 Einsätzen in der ewigen Spielerliste in dieser Saison sogar auf den fünften Platz. Um Wendell Alexis einzuholen, fehlen Niels nur noch vier Spiele. In seinem Windschatten lauern Luke Sikma (196) und Peyton Siva (183) darauf, in der kommenden Saison in den Kreis der zehn größten ALBA-Legenden vorzurücken. Denn es ist doch klar, dass dieses Double noch nicht das letzte Wort dieser tollen ALBA-Mannschaft sein soll!
 

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