Er kennt diese Abende, an denen einfach alles in den Korb fällt, sagt Luke Sikma. „Aber von diesen Spielen hatte ich nicht viele. Viel öfter habe ich Spiele gehabt, in denen mir jeder Ball in den Händen gelandet ist“, erzählt Sikma und lacht. Hände wie Magneten. Sie griffen jeden Rebound.

Text: Sebastian Schneider, Fotos: Tilo Wiedensohler/Camera4

Dieses Feature ist Teil unseres Jahrbuchs 2020/2021 (hier im Shop erhältlich). Es ist eines von sechs Skills-Features. In den weiteren Artikeln dieser Reihe werden das Werfen (mit Marcus Eriksson), das Post-Up-Spiel (mit Johannes Thiemann), das Verteidigen (mit Ben Lammers und Fee Zimmermann), das Dribbeln (mit Maodo Lo) und das Passen (mit Lena Gohlisch) behandelt. Die Features werden nach und nach auf unserer Website veröffentlicht.

Dass die Nummer 43 ALBAs Herr der Dinge ist und so vieles gut kann, braucht man keinem mehr erzählen. Ein echter Point Forward, einer der vielseitigsten Spieler der Euroleague – dabei fällt schon fast nicht mehr auf, wie exzellent er die Kunst an den Brettern beherrscht: In der vergangenen Saison war Luke Sikma der zweitbeste Rebounder der BBL. Und das mit 2,03 Metern Länge und, höflich ausgedrückt, relativ kleinen Sprungfedern in den Beinen. Sikma agiert auch beim Kampf um die Abpraller so wie auf dem Rest des Spielfelds: mit dem Kopf. “Viele Typen denken zuallererst daran, dich unter dem Korb wegzuschieben, also auszuboxen. Ich dagegen will immer den Ball im Auge behalten. Es geht nicht darum, wer am besten ausboxt, sondern wer zuerst den Ball kriegt”, sagt er.

Beim Treffen in einem Café malt er mit seinem Zeigefinger auf der Tischplatte neben Streuselschnecke und Kaffee, als sei sie ein Taktikbrett. Er liebt Streuselschnecke. Wo steht er, wenn der Wurf von links kommt? Wo steht sein Gegenspieler? Er spricht von Winkeln und davon, wie er seinen Verteidiger unter dem Korb einklemmt, von Kickout-Pässen und dem Verzicht aufs Ausboxen, er liebt es, darüber zu reden. Aber am Ende ist das Schöne: Rebounding bleibt ein gutes Stück Instinkt, Beobachtungsgabe, ein nicht gänzlich auszuleuchtendes Geheimnis. So beschreibt es Sikma, so war es auch bei seinem Vater Jack, ein siebenmaliger All-Star der NBA, der in die Hall of Fame aufgenommen wurde, die größte sportliche Auszeichnung, die es in den USA gibt. Seine größte Stärke sei die intuitive Fähigkeit, das Spielfeld zu überblicken, hat der Jack Sikma einmal über Luke gesagt – und dabei auch den Ring gemeint. Man kann das auch bei ALBA beobachten: Einer seiner Mitspieler wirft, der Ball ist noch in der Luft und Sikma bewegt sich trotzdem schon Richtung eigene Hälfte - weil er sieht, dass das Ding reingehen wird. 
 

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Alle Kinder wollen werfen. Sich ans Brett stellen und auf die Fahrkarten der anderen lauern, will niemand. Luke dagegen machte das Spaß. Sein erster Court lag, Klassiker, in der Garageneinfahrt seiner Eltern in Seattles Vorstadt Bellevue. Er kann sich nicht mal mehr erinnern, in welchem Alter er angefangen hat, den Ball zu dribbeln, weil er noch so klein gewesen sei. „Wenn ich zurückdenke, was mir geholfen hat ein guter Rebounder zu werden, würde ich sagen: Das Spiel ‘21 Tips‘“. Es läuft folgendermaßen: Einer stellt sich an die Freiwurflinie und wirft, die anderen greifen die Abpraller weg. „Wenn du ihn noch im Sprung geholt, sofort geworfen und getroffen hast, bekamst du drei Punkte. Wenn er vorher schon einmal den Boden berührt hat, einen. Du musst also sehr früh entscheiden, wo du hingehst, sonst ist es zu spät. Dadurch lernte ich, die Flugkurve zu lesen und auch zu spekulieren“, erzählt Sikma. Davon profitiert er noch heute. 

Als die Supersonics 1996 gegen die Bulls im Finale verloren, war Sikma sechs Jahre alt. In der Arena seiner Heimatstadt Seattle sah der Junge einen Verrückten mit bunten Haaren und der Nummer 91 durch die Zone berserkern, als hinge sein Leben davon ab. Und obwohl Dennis Rodman nicht für die geliebten Sonics, sondern für Bulls spielte, hat er den kleinen Luke tief beeindruckt. „Ich mochte immer Spieler, die körperlich nicht überragend, aber trotzdem fantastische Rebounder waren. Spieler, die durch ihren schieren Willen und ihre Hartnäckigkeit ihre Gegner irgendwann einfach überwältigten“, erzählt er.

"Egal welchen Stil du spielst, es ist am Ende simpel: Jeder Rebound, den du dir holst, bedeutet einen Ballbesitz mehr als der Gegner, mehr Würfe für dein Team."
Luke Sikma

Auf der Highschool und am College macht sich Luke sofort einen Namen als herausragender Rebounder, der Rest seines Spiels ist noch roh. Er führt bis heute die ewige Bestenliste der Portland University an, mit fast 1.000 Rebounds. Aber während ihm seine Trainer die reine Lehre vom Ausboxen predigen, erzählt ihm sein Vater Jack etwas anderes. „Ich hatte am College mehrere Spiele, in denen ich 19 Rebounds geholt habe. Davon habe ich vielleicht sechsmal ausgeblockt, den Rest der Zeit bin ich dem Ball hinterhergejagt. Folge dem Instinkt“, erzählt er das, was ihm sein Vater beigebracht hat. Die andere Sache: Es reicht nicht, den Ball mit ausgestreckten Armen zu greifen; du musst ihn sofort an dich reißen, um seine Position zu ändern - sonst klauen sie ihn dir.

Über Spanien nach Berlin

Seine Profikarriere begann in der zweiten spanischen Liga, ein komplett anderes Spiel, als er es aus den Staaten gewohnt war. Dass er sich auf sein Rebounding verlassen konnte, half ihm, selbstbewusst zu bleiben, erzählt er: “Ich wusste, dass man diese Qualität in jede Basketballkultur übersetzen kann. Egal welchen Stil du spielst, es ist am Ende simpel: Jeder Rebound, den du dir holst, bedeutet einen Ballbesitz mehr als der Gegner, mehr Würfe für dein Team.” In der ACB, der ersten spanischen Liga, änderte sich sein Job, er begann, auch Dreier zu werfen, bewegte sich weiter weg vom Korb. Zeitweise führte er die Liga bei den Offensivrebounds an, weil dabei mehr sein Näschen und weniger sein Kreuz gefragt waren. Das bereitete ihn gut auf Coach Aito und Berlin vor. 
 

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Nimmermüde Spieler, deren Job es hauptsächlich ist, Fehlwürfe abzuräumen, sind im modernen Basketball an den Rand gerückt. Insbesondere Aitos schneller Stil mit vergleichsweise kleineren Riesen verlangt bei ALBA mehr als pures Rebounding. „Was ich hier besonders mag: Wenn ich einen Defensivrebound kriege und gerade niemand vor mir steht, kann ich in sehr vielen Fällen sofort den Ball bringen. Wenn mich jemand eng verteidigt, gebe ich den Ball eben Peyton oder einem anderen Guard“, sagt Luke. Den Fast Break initiieren zu dürfen sei der Traum jedes Big Man. Man hat diese Bilder sofort im Kopf: Wie Sikma seine Hände wie einen Schraubstock um den Ball legt, die Schultern breit macht und den Blick nach vorne richtet. Er reißt die Augen weit auf, um Blickkontakt mit einem losspurtenden Kollegen zu kriegen und mag es, wenn er diesem sofort eine Wurfchance kreieren kann. 

Der Spätzünder Luke hat sich in seiner Karriere langsam, aber stetig verbessert. Zweite Liga, Euroleague - sein Rebounding habe er dabei nicht groß verändern müssen, doch den Rest seines Spiels auf ein immer höheres Level gehoben, erinnert er sich. Die Arbeit am Ring gab ihm die Überzeugung, auch vor Stars keine Angst haben zu müssen. Die besten Rebounder, gegen die er gespielt hat: Nikola Milutinov von ZSKA, weil er mit seinen 2,13 Meter nicht wegzuschieben ist und immer an der richtigen Stelle steht; und Felipe Reyes von Real Madrid, ähnliche Gewichtsklasse und Größe - und ein noch besseres Näschen für den Ball. „In unserer ersten Euroleague-Saison haben die anderen definitiv den Eindruck bekommen: Egal ob ALBA 30 Punkte hinten oder 20 vorne liegt – wir spielen immer mit der gleichen Intensität und unserem kreativen Ansatz.“ 

Wie Coach Aito das Rebounding von Luke Sikma verbesserte

Aber der Detailfuchs Aito hat auch seinem Schlüsselspieler noch Kleinigkeiten beigebracht, die erstmal simpel klingen, auf die er jedoch vorher nie gekommen ist. Beispiel: Dotzt der Ball vom Ring, tippt ihn Sikma gerne ein paar Mal mit den Fingerspitzen in die Luft, entweder, um ihn selbst unter Kontrolle zu bringen, oder in die Richtung, in der er einen Mitspieler vermutet. Aito sagte ihm, dass er den Ball nicht in die Mitte der Zone tippen solle, sondern, wenn es geht, immer zur Seite. „Denn wenn ihn dort ein gegnerischer Spieler kriegt, dauert es länger, bis er einen Fast Break in Gang kriegt. Es ist eine ungefährlichere Zone, notfalls geht er eben ins Seitenaus“, sagt Sikma. 

“Im Vergleich zu letztem Jahr sind wir als Team nochmal ein bisschen kleiner geworden. Deswegen wird es extrem darauf ankommen, dass alle die gleiche Mentalität beim Rebound haben: Hingehen - mit allem, was du hast.“
Luke Sikma

Er ist bei ALBA noch variabler geworden, spielt eine Position zwischen der Vier und der Fünf, zwischen Power Forward und Center: Je nachdem was der Gegner von ihm verlangt, wühlt er in der Zone oder stiehlt sich weiter entfernt herum. Doch sein Spiel beruht nicht auf Körperlichkeit oder Überwältigung - Luke Sikma sagt selbstkritisch, dass er manchmal nicht so aggressiv zum Brett geht, wie er sollte. Zum Saisonstart will er wieder auf Bluthund-Modus schalten.
“Im Vergleich zu letztem Jahr sind wir als Team nochmal ein bisschen kleiner geworden. Deswegen wird es extrem darauf ankommen, dass alle die gleiche Mentalität beim Rebound haben: Hingehen - mit allem, was du hast.“ Entweder du holst dir den Ball oder du zermürbst deinen Gegner allein deshalb, weil du jedes Mal voll hingehst - es ist nie vergeblich. 

Diesen Rat gab er auch seinem Bruder Jake, ein Athlet, aber kein Basketballer. Jake war zu einem Junggesellenabschied eingeladen, erzählt Luke Sikma, und da gab es ein Drei-gegen-Drei-Turnier. Ob der Profi ihm irgendwelche Tipps geben könne? “Ich habe ihm gesagt: Hol dir die Rebounds. Jeder liebt einen Typen in seinem Team, der reboundet, besonders irgendwelche 30-somethings, die nur in ihrer Freizeit zocken”, sagt Luke. Nach dem Wochenende erkundigte er sich, wie es gelaufen war. Jake war begeistert, alle seien beeindruckt gewesen, wieviel Bälle er geholt habe. “Ich hab’s ihm doch gesagt”, meint Luke und lächelt. “Jeder liebt Rebounder.“ Das könne niemals eine schlechte Sache sein.