Renate Eichenberger hält sich im Hintergrund und ist doch immer präsent. Die Arbeit der studierten Sportpsychologin ist ungemein wichtig für den Erfolg von ALBA BERLIN. Während der gesamten Saison steht sie den Spielern zur Seite, hat ein Ohr für die Gedanken und Sorgen der Sportler und arbeitet mit ihnen gemeinsam an deren persönlicher Entwicklung. Im Interview spricht sie über die Anspannung vor wichtigen Spielen wie dem Pokal-Top4 und wie sie den Spielern hilft, trotzdem ans Ziel zu kommen.

Titelbild: Jan Buchholz, Interview: Louis Richter

Renate, wie unterscheidet sich Deine Arbeit als Sportpsychologin in einer Woche vor anstehenden Finalspielen von einer herkömmlichen Woche?
Das Wort „final“ bedeutet, dass etwas endet, dass es zeitlich begrenzt ist. Das ist immer speziell für die Sportler. Meine Arbeit ist aber generell als Prozess zu verstehen. Wenn ich erst in der Woche vor dem Top4 damit anfangen würde, mit den Spielern darüber zu sprechen und daran zu arbeiten, was solche Finalspiele im Kopf machen können, dann wäre es wahrscheinlich zu spät. Natürlich gibt es auch Maßnahmen, die kurzfristig wirken können. Aber grundsätzlich ist es so, dass unser Kopf träge ist. Er braucht Zeit, um Veränderungen zu verstehen und in Gang zu bringen. Dementsprechend ist es wichtig, die Spieler über die gesamte Saison hinweg zu betreuen und bestmöglich vorzubereiten.

Wie gehst Du psychologisch vor?
Ich arbeite sehr individuell mit den Spielern und nehme, was ich von ihnen bekomme. Ich gehe, bildlich gesprochen, nicht mit der Gießkanne über den gesamten Kader und schütte die gleichen Maßnahmen über allen Spielern aus. Das ist nicht mein Weg. Mir ist es sehr wichtig, den Menschen und seine Geschichte kennen zu lernen. Dabei ist es egal, ob er von sportlichen oder privaten Sorgen erzählt. Wenn ein Spieler im Laufe der Saison zu mir kommt und sagt, dass er unter Druck nicht so performt, wie er will, besteht die Herausforderung darin, herauszukriegen, was diesen Druck auslöst.

Sind es oft ähnliche Ursachen? Kannst Du Beispiele nennen?
Auch im Profi-Alter können beispielsweise die Eltern noch ein Faktor sein. Da sie einen begleitet und unterstützt und eventuell auch in die Karriere investiert haben, will man ihnen etwas zeigen und gut sein. Der Druck kann mitunter mediale Ursachen haben, und natürlich kann er auch aus dem Sportler selbst kommen. Das Ziel ist es dann, die Persönlichkeit des Spielers so zu entwickeln, dass sein Vertrauen in seine Fähigkeiten auch in solchen Alles-oder-nichts-Spielen uneingeschränkt groß ist.
 

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Renate Eichenberger in der Mercedes-Benz Arena während des Spiels gegen die Hamburg Towers. Foto: Jan Buchholz

Im besten Fall herrscht also große Vorfreude.
Drucksituationen können durchaus etwas Positives haben. Denn wenn der Sportler Druck oder Aufregung verspürt, dann ist ihm das, was auf ihn zukommt, auch wichtig. Bis zu einem gewissen Grad darf der Sportler diese Nervosität also ausdrücklich spüren. Schwierig wird es erst, wenn der Druck die Emotionen so beeinträchtigt, dass der Sportler daran gehindert wird, seine Leistung abzurufen.

Die Lust aufs Gewinnen darf nicht zur Last werden. Wie kann es gelingen, dem Team Lust auf den gemeinsamen Weg dorthin zu machen?
Wenn ein Sportler ein Ziel hat, wie zum Beispiel den Gewinn eines Titels, dann verknüpft er dieses Ziel mit Erwartungen. Wenn ein Sportler aber seine individuellen Ziele zu hoch steckt, kann es schwierig werden. Dahingehend ist es das Wichtigste, dass jeder bei sich beginnt und auf sich hört: Warum mache ich das eigentlich gerade, was ich hier tue? Wenn der Sportler dann merkt, dass er das macht, weil es seine Leidenschaft ist, dann ist das ein sehr guter, nachvollziehbarer Grund. Wenn er realisiert, dass er diese Leidenschaft ausleben kann und dabei Spaß mit den Mitspielern hat und genau das ins Zentrum stellt, kann dies ungemein dabei helfen, den Druck zu steuern. Es hilft enorm, immer wieder das große Ganze zu betrachten: Was würde denn eigentlich passieren, wenn wir verlieren? Natürlich: Die Spieler wollen den Titel, der Verein will den Titel. Aber: Es ist immer noch ein Spiel, dass wir inmitten einer Pandemie ausüben können. Das ist nicht selbstverständlich.

Ich werde niemals Dinge bewerten.

Ist es also ratsam, besondere Spiele wie die beim Top4 auch als solche wahrzunehmen? Oder sollte der Sportler eher versuchen, diese Partien anzugehen wie jede andere?
Ich gebe niemals Ratschläge. Weil ich nicht weiß, ob dieser Ratschlag in diesem Moment genau der ist, den der Spieler braucht. Ich weiß nicht in Gänze, was im Kopf des Athleten vorgeht. Keine Chance. Ich werde niemals Dinge bewerten. Deswegen ist die Arbeit mit mir für die Sportler auch anstrengend. Meine Methode ist es, immer und immer wieder nachzufragen. Bis ich das Gefühl habe, zu verstehen, was gerade passiert. Bis ich die Problematik durchdrungen habe. Anstatt, dass ich dem Athleten etwas rate, führen meine Fragen dazu, dass er Umgangsformen mit und für sich selbst findet.
 

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Luke Sikma beim Freiwurf: eine Standardsituation, die besondere Konzentration erfordert. (Foto: Camera4)

Gemeinsam den Titel zu holen ist das große Ziel ­­– und es ist immer mehr als die Summe der einzelnen Teile. Setzt sich angesichts dieser Aufgabe trotzdem jeder Spieler seine eigenen persönlichen Ziele?
Mir ist es sehr wichtig, dass die Spieler sich keine Ergebnisziele setzen. Keiner soll zu mir kommen und sagen: „Ich will morgen 20 Punkte machen!“. Das ist Quatsch. Denn das macht wirklich Druck. Im Laufe der Zeit erarbeite ich mit den Spielern vor allem mentale Ziele. Solche, die man nicht direkt von außen messen kann. Die goldene Regel ist für mich: Maximal drei Ziele für ein Spiel. Mehr kann überfordernd sein.

Wie könnten diese mentalen Ziele aussehen?
Beispielsweise: Ich weiß, ich werde nicht in der Starting Five stehen. Aber sobald ich das Zeichen kriege, dass ich ins Spiel komme, bin ich voll da. Damit ich beim ersten Schritt aufs Spielfeld zu 100 Prozent fokussiert bin. Ein wichtiges Ziel kann auch sein, dass ich das Team von der Bank aus so gut wie möglich unterstütze und anfeuere. Das kann in diesen Zeiten ohne Fans extrem wichtig sein. Ob und wie der Sportler diese Ziele erreicht hat, kann größtenteils nur er selbst messen und beurteilen – völlig unabhängig vom Ausgang der Partie. Wenn eines dieser Ziele nicht erreicht wird, kann es für das nächste Spiel umformuliert und neu angegangen werden.

Profisportler sind meist sehr ehrgeizig. Neigen sie zu besonders strenger Selbstkritik oder schützt sie ein stark ausgeprägtes Ego vielmehr davor?
Wenn man in den Austausch mit Athlet*innen geht, kommen bei der Frage, was im Hinblick auf das letzte Spiel verbessert werden könnte, wie aus der Pistole geschossen bis zu zehn Punkte. Dann frage ich, was dagegen gut war, und dann kommt: nichts. Ich erlebe Leistungssportler immer als sehr, sehr selbstkritisch. Sie wollen immer performen, idealerweise in jedem Spiel noch besser als zuvor. Sie sind eben Leistungssportler, sie werden auch dafür bezahlt, Leistungen zu erbringen. Aber sie sind keine Maschinen. Es klappt einfach mal besser und mal schlechter. Es ist wichtig, diesen Druck aus dem Alltag rauszunehmen. Das ist mein Job, den ich auch mal mit provokativen Fragen oder Spiegelungen angehe. Indem ich zum Beispiel frage: „Ach, du willst also in jedem Spiel der Held sein, ja? Denn so klingt das gerade.“ Oder auch einfach: „Hörst Du dir gerade selbst zu?“ Dann ist oftmals kurz Ruhe, bevor eine differenziertere Einschätzung folgt.

Ich bin in der Beziehung mit dem Spieler immer zweitrangig. Die Maßnahmen, die wir gemeinsam ergreifen, sollten für den Spieler funktionieren und ihm persönlich etwas bringen.

Arbeitest Du vor dem Top4 intensiver mit den Spielern?
Zum einen ist es so, dass ich generell für die Spieler da bin, vor dem Top4 wie vor jedem anderen Spiel. Ich werde mit ein paar Spielern gezielt reden, aber mit denen stehe ich eh dauerhaft im Austausch. Ich werde selbst nicht aktiver werden als sonst, aber komme kurz vor dem Top4 nochmal zum Training, um da zu sein, falls etwas ist und um sie etwas zu beruhigen.

Ein Basketballer kann seinen Erfolg anhand vieler harter Fakten messen: Titel, Statistiken zu Einsatzzeiten, Punkten, Assists, Rebounds etc. Wie misst Du Deinen Erfolg?
Wenn ich merke, dass der Spieler die Dinge, die wir besprochen haben, auf dem Feld auch wirklich umsetzt. Wenn er mir erzählt, wie gut es geklappt hat, oder wenn ich es selbst aktiv beobachten kann. Das ist für mich das Größte. Dementsprechend liebe ich es, die Spiele zu schauen und ganz genau zu beobachten. Aber: Ich bin in der Beziehung mit dem Spieler immer zweitrangig. Die Maßnahmen, die wir gemeinsam ergreifen, sollten für den Spieler funktionieren und ihm persönlich etwas bringen.

Die Spieler werden also sensibilisiert in Fragen der Psychologie und mentalen Gesundheit. Weißt Du, ob sie sich dementsprechend auch gegenseitig aktiv helfen?
Wir haben das große Glück, dass wir hier bei ALBA ein wirklich tolles Team haben. Ein Team, in dem die Spieler viel miteinander sprechen und sich gegenseitig unterstützen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Spieler sich immer auch bewusst in dieser Form Halt geben, unbewusst tun sie das aber die ganze Zeit. Es ist schön, das zu beobachten. Wie mit kleinen Gesten und Worten immer wieder etwas passiert, das genau auf diese mentale Ebene abzielt. Was die Jungs darüber hinaus im Privaten besprechen, liegt nicht in meinen Händen und interessiert mich auch nicht.

Im Top4 steht am Samstag um 19.30 Uhr das Halbfinale gegen Göttingen an. Sollte unser Team gewinnen, ginge es am Sonntag um 15.00 Uhr ins Finale gegen den FC Bayern oder ratiopharm Ulm. Falls ein Spieler zwischen den beiden Partien Redebedarf hätte: Könnte psychologische Arbeit in diesem kurzen Zeitraum überhaupt wirksam werden?
In so einer Situation ginge es vor allem darum, dass der Spieler eine Möglichkeit hat, loszuwerden, was ihn umtreibt. Dazu braucht es von mir in diesem Moment gar nicht viel. Die Spieler sind erfahren genug, um zu wissen, wie sie sich schnell wieder auf das nächste Spiel fokussieren können. Aber durch das Sprechen oder durch das Auskotzen, wie ich es nenne, entlastet sich der Spieler und kann sich auf die nächste Aufgabe konzentrieren. Dafür genügen auch die wenigen Stunden zwischen den Spielen. Es wäre viel schädlicher, wenn sich der Spieler zurückhielte. Dann würde auch der Körper anfangen, sich zu verspannen. Generell ist es in Drucksituationen am wichtigsten, überhaupt zu kommunizieren und miteinander zu sprechen. Wenn die Spieler also merken sollten, dass sie nervös sind, dann können sie darüber reden. Es ist okay, dass sie nervös sind, das gehört dazu. Daran ist nichts falsch, niemand muss das verstecken.

Seit dem 1. April ist Renate Eichenbergers Buch „Blind Date Sportpsychologie – Was Sie schon immer über die Bedeutung der Psyche im Sport und über ihre systematische Unterstützung wissen wollen“ erhältlich. Es ist beim Neuen Sportverlag erschienen und hier bestellbar.

Das TOP4-Turnier um den deutschen Pokal 2021 am Wochenende (17./18.4.) wird KOSTENLOS auf MagentaSport und twitch.tv/easycreditbbl übertragen. Spielplan: Halbfinale 1 Ulm vs München: Sa. 16 Uhr / Halbfinale 2 Göttingen - ALBA: Sa. 19:30 Uhr / Finale: So. 15 Uhr

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Gut vorbereitet zum TOP4 nach München: Die Albatrosse wollen zum elften Mal Pokalsieger werden.