Das unfassbare Spektakel fand im Stillen statt. An einem Novembertag des vergangenen Jahres machten sich Marcus Eriksson und Individualcoach Carlos Frade an eine simple Übung. Dabei wirft der Spieler von fünf verschiedenen Positionen rund um die Drei-Punkte-Linie, die 6,75 Meter vom Korb entfernt ist; wenn er einmal nicht trifft, rückt er eine Position weiter. Und Eriksson traf. Der Trainer konnte anschließend die Zahlenreihe 9/49/38/97/61 = 254 notieren.

Titelbild: Camera4, Text: Norbert Thomma

Dieses Feature ist Teil unseres Jahrbuchs 2020/2021 (hier im Shop erhältlich). Es ist eines von sechs Skills-Features. In den weiteren Artikeln dieser Reihe werden das Rebounding (mit Luke Sikma)das Post-Up-Spiel (mit Johannes Thiemann), das Passen (mit Lena Gohlisch), das Verteidigen (mit Ben Lammers und Fee Zimmermann), und das Dribbeln (mit Maodo Lô) behandelt. Die Features werden nach und nach auf unserer Website veröffentlicht.

254 von 259 Dreiern hintereinander, eine Quote von 98 %. Man würde es nicht glauben, hätte nicht eine Kamera in ALBAs Trainingshalle alles aufgezeichnet. (Nur zum Vergleich: Den Vereinsrekord hielt bislang der Weitwurfspezialist Spencer Butterfield mit 95.) Das Video ist auf Youtube zu sehen, im extremen Zeitraffer wirkt die Abfolge von Würfen wie Slapstick. In Wahrheit brauchte es dafür sehr lange 18 Minuten und 50 Sekunden. Das ist im Basketball fast die Dauer von zwei Vierteln reiner Spielzeit, alle 4,3 Sekunden ein Wurf, der den Ball durch die Luft und in den Korb fliegen lässt, vom Trainer aufgefangen und zurück gepasst wird. Eine knappe Halbzeit lang werfen und werfen und werfen und dabei die Konzentration nicht verlieren. Traumwandlerisch. 

Trainer Carlos Frade sagt: „So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht annähernd.“

Marcus Eriksson sagt: „Es gibt so Tage, da spürst du es in den Fingern.“

ALBAs Sportdirektor Himar Ojeda sagt und lacht: „Ich sitze bei den Spielen hinter der Bande, und wenn Marcus einmal nicht trifft, was ja bei jedem normal ist, dann bin ich enttäuscht. Weil ich das bei ihm nicht erwarte. So sehr vertraut man seinem Wurf.“

Und der TV-Experte Alex Vogel sagt: „Eriksson ist einer der besten Shooter Europas.“
 

Sternzeichen? Schütze!

Wie wird einer so nervenstark, so zielsicher? Freunde des Übersinnlichen würden sagen, es liege am Geburtstag, 5. Dezember, Sternzeichen: Schütze. Der eher nüchterne 26-Jährige Eriksson führt das auf seine Eltern zurück, beide spielten halbprofessionell für Uppsala in der höchsten schwedischen Liga. Das Baby wurde zu jedem Spiel und Training mitgeschleppt. Sein Onkel Bosse ist eine Legende als 3-Punkte-Werfer. Dutzende Fotos und Videos zeigen den kleinen Marcus, wie er mit der Großmutter ein Bällchen wirft. Der hohe Babystuhl, in den er beim Essen gesetzt wurde, wurde zum Korb: Kaum konnte der Bub gehen, warf er seinen Ball dort hinein. Mit vier, fünf Jahren das erste, einfache Training mit dem Papa. Als Jugendlicher der Wechsel auf eine Schule mit neuem Basketballprojekt. Sein Jahrgang in Uppsala erwies sich als das beste Team aller nordischen Länder, und Eriksson hörte auf, auch Hockey, Eishockey, Fußball und Leichtathletik zu betreiben. Er war darin ebenfalls recht gut gewesen, konzentrierte sich nun aber auf Basketball.

Wenn man mit Marcus Eriksson spricht, sitzt da ein höflicher Mann, der lächelnd nachdenkt und nach Worten für sein überragendes Können sucht. Irgendwann fällt der Satz „Ich bin ein schüchterner Typ“. Er sei halt täglich mit Fahrrad und Ball durch seine Heimatstadt gestreift, „ich kenne da jeden Korb, wirklich jeden“. So nach und nach habe er ein gutes Gefühl für den Ball entwickelt.
 

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Foto: Camera4

Wann dachten Sie das erste Mal: Hey, ich bin ein Werfer!
Ich bin ein Shooter, solange ich mich erinnern kann.

Und wie wird man das?
Ich habe einen guten Touch für Bälle geerbt, das ist einfach Glück. Der Rest ist Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung, man kann auch sagen: harte Arbeit.

Könnten Sie ALBA-Kindern erklären, worauf es ankommt? 
Der Schlüssel ist für mich die Balance beim Absprung, man muss sich im Körper stabil fühlen.

Der Physiker und geniale Trainer von Dirk Nowitzki, Holger Geschwindner, hat für diesen ideale Würfe errechnet. Beim Freiwurf: Steigung 56 Grad, Geschwindigkeit 26 km/h, Einfallswinkel 45 Grad. Haben Sie je über so etwas nachgedacht?
Nie. Ich richte mich nach meinem Instinkt. 

Ein Wissenschaftler der Universität Gießen hat herausgefunden: Je langsamer der Ball, desto erfolgreicher der Wurf.
Das klingt für mich logisch. Bei jedem guten Schützen sieht das butterweich aus. Alle Körperteile arbeiten harmonisch zusammen, der Wurf ist eine einzige fließende Bewegung. Doch sobald einzelne Elemente wie Knie, Fuß, Arm oder Handgelenk in ihrer Funktion sichtbar werden (er macht ruckartige Bewegungen wie ein Roboter), machst du leicht Fehler, weil so ein einzelnes Teil der gesamten Mechanik störungsanfällig ist. 

"Der Schlüssel ist für mich die Balance beim Absprung, man muss sich im Körper stabil fühlen." - Marcus Eriksson

Trainer reden bei Spielern wie Eriksson von exzellenter Auge-Hand-Koordination. Von Akkuratesse, von Disziplin. Von einem gut justierten Arm, als seien von der Natur Kimme und Korn eingepflanzt. Und Trainer Frade sieht Erikssons Geheimnis in „der Schlichtheit seines Wurfs“; er nutze optimal die Energie aus den Beinen, kein Spieler verpulvere weniger Kraft als er. Der Schwede ist ein Monster an Effizienz.

Tatsächlich kann man sich unendlich viele Würfe von Marcus Eriksson anschauen - und sieht doch einen einzigen. Als hätte er die für ihn optimale Bewegung als Schablone anfertigen lassen und müsse jeden weiteren Wurf nur noch kopieren.

Er hat Erfolg damit. Gleich in seiner ersten Saison bei ALBA gewann die Mannschaft Pokal und Meisterschaft, das Double. Eriksson war mit 12,9 Punkten im Schnitt der beste Scorer des Teams. Seine Dreier fanden in der Liga zu 48,9% und in der EuroLeague zu 46,6 % ins Ziel. Und beim Finalturnier in München, als im Juni dieses Jahres in der Quarantäneblase der Titel geholt wurde, warf er nervenstark noch einmal präziser: 29 von 55, eine Quote von 52,9%.
 

Wie Himar Ojeda und Carlos Frade auf Marcus Eriksson aufmerksam wurden

Ehe sie bei ALBA zusammenfanden, hatten sich die Wege von Sportdirektor Ojeda, Individualtrainer Frade und Eriksson schon einmal gekreuzt. Die beiden Spanier waren in Diensten des ACB-Clubs Gran Canaria, und Frade wurde 2009 nach Portugal entsandt, um bei der Europameisterschaft U 16B talentierte Spieler zu beobachten. Die Notiz aus Frades Report über einen jungen Schweden kann Ojeda heute noch zitieren: „good shooter, very skinny.“ Und Frade erinnert sich an einen „dürren Besenstil, bei dem man sofort den Unterschied beim Werfen sah. Er war besonders.“ Eriksson wurde damals mit 51,6% Dreiern zweitbester Punktesammler des Turniers.

Ein Muskelprotz ist er nie geworden. 85 Kilogramm bringt er bei 2,01 Metern auf die Waage und er weiß, dass einige Kilo extra beim Körperkontakt mit den Gegnern ganz hilfreich wären. Amüsiert erzählt er, wie er mal einen ganzen Sommer lang versuchte, zuzunehmen. Wochenlang hatte er sich viel Essen und Kraftraum verordnet und Gewicht zugelegt, doch kaum begannen das Training und die Rennerei, schwand alles dahin. Auch als Verbrennungsmotor scheint Eriksson Körper äußerst effektiv. Seitdem ist er ausreichend damit beschäftigt, sein Gewicht wenigstens zu halten. Nach einem Kreuzbandriss kümmert er sich konsequent um Mobilität und Kraft im Bereich der Knie, doch dort sitzen eben nicht jene Muskeln, mit denen man beim Lüften des Trikots das Publikum beeindruckt. 
 

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Foto: Camera4

Denken Sie eigentlich beim Werfen?
Ich bin grundsätzlich positiv eingestellt und mein Unterbewusstsein sagt immer: Der geht rein. Wenn man beginnt, richtig zu grübeln, der letzte Wurf war zu kurz, du musst mehr Kraft aufwenden - das wird nichts. Es bringt mehr, den Körper mitdenken zu lassen, er hat die Automatismen gespeichert.

Gibt es einen Lieblingspunkt für Sie?
Von wo aus ich werfe, ist mir völlig egal, solange ich im Rhythmus bin. Mein Rekord von 103 Dreiern hintereinander kommt genau aus dem Zentrum, doch die 97 mit Carlos habe ich von der linken Seite getroffen.

Die Linie bildet einen Radius von 6,75 Metern um den Korb herum. Sie werfen auch mal aus acht Metern oder mehr. Macht das einen Unterschied? 
Von der Mechanik her muss ich da nicht groß etwas verändern. Die Quote sinkt ein wenig. Trotzdem trainiere ich das häufig, denn wenn ich weite Würfe nehmen kann, verschaffe ich meinen Mitspielern mehr Raum, weil ich Gegner mitziehe, die mich verteidigen. 

Kennen Sie den „shooting slump“, eine Wurfkrise?
Das würde bedeuten, dass es vier, fünf Spiele nicht läuft, ja? Das hatte ich in Berlin nie. Es können mal zwei, drei Würfe nicht klappen. Meist weiß ich sofort, was falsch war, und korrigiere es. Kann sein, dass ich zu überhastet war, oder die Füße standen nicht korrekt und die Balance ging verloren. Solche Dinge signalisiert mir mein Gefühl.

Tennisspieler werfen nach einer Saison den Schläger in die Ecke und rühren ihn nicht mehr an. Sie können ihr Spielgerät einfach nicht mehr sehen. Sind Sie auch…
…ich hätte das nicht ausgehalten, ich brauchte den Ball, jeden Tag. Wenn kein Training mit dem Team war, bin ich freiwillig in die Halle. Werfen, werfen, werfen. Immer in der Sorge, wenn ich nicht genug übe, könnte es tags darauf nicht perfekt funktionieren. Inzwischen bin ich gelassener, ich mache auch mal einen Tag frei. 

"Von wo aus ich werfe, ist mir völlig egal, solange ich im Rhythmus bin." - Marcus Eriksson

Es ist ein Vormittag Ende September, als Trainer Carlos Frade und Marcus Eriksson wieder mal alleine in der Trainingshalle miteinander arbeiten. An sich dauert so eine Einheit fürs Werfen 15 bis 20 Minuten, doch der Spieler war wochenlang verletzt und bekommt eine längere Schicht. Frade sagt, mit einem Schützen fokussiere er sich beim Training normalerweise auf zwei Dinge: den Kopf und die Mechanik. An der ist jedoch bei Eriksson nichts zu verbessern, der Kopf also. Basketball ist ja kein statisches Spiel, bei dem der Werfer still steht und in Ruhe zielen kann. Schon gar nicht einer wie Eriksson, der bekannt ist für seine Fähigkeit als Shooter, und den die Gegner keine Sekunde aus den Augen lassen.

Das Hirn schärfen

Sie beginnen mit zwei Bällen, der Spieler dribbelt, Frade wirft ihm den zweiten Ball zu, dann muss Eriksson gleichzeitig den einen Ball zurück passen, den anderen fangen und auf den Korb werfen. Per Handzeichen schickt ihn der Trainer nach links, nach rechts, mal darf er sofort werfen, es werden Freiwürfe eingestreut, jeden Moment bekommen das Augen ein neues, stummes Kommando. „Das Hirn schärfen“, nennt der Schwede das. 

Einige betuchte Fußballclubs habe dafür einen „Footbonauten“ angeschafft, einen 20 x 20 Meter großen High-Tech-Käfig mit Ballmaschinen und aufleuchtenden Zielfeldern; Mario Götze, so heißt es, sei mit seiner Handlungsschnelligkeit darin immer noch unerreicht. 
 

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Foto: Florian Ullbrich

Doch Basketball ist Handarbeit. Frade stellt eine Art Einkaufswagen mit Bällen drin an die Dreierlinie, Eriksson muss sich dribbelnd um das Hindernis schlängeln, Frade verfolgt ihn wie ein Verteidiger, signalisiert mit dem Daumen „Finte zur Seite und Wurf“.  Die beiden unterhalten sich auf Spanisch, der Schwede hat bis zu seinem Berliner Engagement neun Jahre in Spaniens erster Liga gespielt. 

Es geht hier um die Simulation von Spielsituationen mit möglichst vielen Varianten, Tempi und hoher Intensität. Nur keinen Rhythmus entstehen lassen. Frade baut Stresselemente ein, die Trefferquote sinkt, ein leises „fuck“ entschlüpft dem Skandinavier, für seine Verhältnisse ein formidabler Gefühlsausbruch; auf dem Trikot machen sich Schweißflecken breit. Er soll beim Dribbeln nicht auf den Boden schauen, er soll beim Wurf kleine Finten einbauen, die den Gegner ins Leere springen und ihn damit frei stehen lassen lassen, er soll seinen Verteidiger mit einer kurzen Pirouette abschütteln.

Der Dreipunktewurf - so wichtig wie nie

Das Ziel ist, über mehr Optionen zu verfügen, mit denen sich ein Spieler den nötigen Raum zum Dreier schafft. Wenn wie so oft die US-amerikanische Profiliga NBA der Trendsetter sein sollte, wird diese Kunstfertigkeit immer wichtiger. Der Journalist und studierte Geograph Kirk Goldsberry hat die Wurfpositionen über Jahrzehnte analysiert und in Grafiken übersetzt. Vor 20 Jahren weist die Dreierlinie noch große Lücken auf, die Punkte der Würfe verteilen sich weit über die Spielfläche. Inzwischen gibt es nur noch zwei dichte Ballungen: direkt am Korb und eine breite, durchgängige Kette um die Dreierlinie; Würfe aus der Halbdistanz sind passé. 

Glänzende Aussichten also für Spieler wie Eriksson, die hochprozentig von außen treffen und als Variante zum Korb ziehen und abschließen können. Es ist vielleicht ein gutes Omen nicht nur für ihn, dass die Trainingshalle von ALBA in Berlin-Mitte liegt, unweit des Checkpoint Charlie: in der Schützenstraße.